Das Enneagramm und die Heiligen Ideen
Das Enneagramm ist ein „Seelenspiegel“ der konkreten Selbsterkenntnis und eine „Landkarte“ für den individuellen Entwicklungsweg.
Die Wurzeln reichen zurück bis zu den christlichen Wüstenvätern im 4.Jahrh. Von Sufi-Meistern wurde es später als Hilfsmittel in der spirituellen Begleitung entwickel.
In der Tradition des Sufismus (O. Ichazo, C. Naranjo, Eli Jaxon-Bear, A.H. Almaas) werden die neun Enneagramm-Muster nicht nur als überlebensstrategische Antworten auf Kindheitsnöte verstanden, sondern außerdem auf einer tieferen Ebene als Reaktionen auf ein spirituelles Dilemma, den „Fall aus der Einheit mit dem göttlichen Sein“ als lebenspraktische Antworten auf den scheinbaren Verlust dieser ursprünglichen Einheit.
Unser angeborenes Ur-Vertrauen, unser vorbegriffliches, selbstverständliches Wissen, dass das Universum, die menschliche Natur und das Leben essenziell gut und liebenswert sind, wird durch frühkindliche Erfahrungen des Nicht-Gehalten-Seins erschüttert.
Die Folgen bestehen darin, dass unser ursprüngliches Gesicht, unser wahres Selbst, unsere wahre Essenz verzerrt, verschleiert oder verdunkelt wird durch Ego-Fixierungen, Fehlidentifikationen, angewöhnte Wahrnehmungs-, Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster („spezifische Verblendungen“, „Schwierigkeiten“ und „Reaktionen“).
Ausdruck dieser ursprünglichen Einheit mit dem Ganzen sind nach A.H.Almaas („Facetten der Einheit“ ) neun „Heilige Ideen“, neun verschiedene Wahrnehmungen Gottes oder unserer grundlegenden Natur. Diese Sicht ist der „natürliche Zustand“, bevor das Ego unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen vernebelt.
Jede Heilige Idee repräsentiert eine bestimmte essentielle Wahrheit über die Realität, eine bestimmte Facette der direkten Wahrnehmung dieser Einen Wirklichkeit.
Aus dieser Einheit mit dem Ganzen, aus diesem Einssein mit Gott kann der Mensch im Grunde nicht herausfallen, weil diese absolute
Dimension, diese essenzielle Wahrheit und Liebe Alles erfüllt. Sie ist das unzerstörbare Wesen von allem, was existiert, von Kosmos und Mensch. Sie ist immer und überall gegenwärtig in vollkommener Liebe. Jeder Mensch, jedes Phänomen stellt eine Manifestation, eine Facette dieser „Ersten Wirklichkeit“ (W. Jäger) dar.
So wird jeder Mensch mit der Fähigkeit geboren, diese ursprüngliche Einheit von Göttlichem und Weltlichem in ihren neun Aspekten intuitiv zu erkennen, für eine von ihnen ist er jedoch besonders stark sensibilisiert.
Erfahrungen mit Unzulänglichkeiten der frühkindlichen Umwelt führen zu mehr oder weniger starken Beeinträchtigungen des natürlichen Grundvertrauens (angeborener inhärenter Seelenzustand; unausgesprochenes, bedingungsloses Vertrauen, dass alles, was existiert – Universum, Menschen, die eigene Person – essenziell gut und vertrauenswürdig ist, selbst wenn die augenblicklichen Umstände enttäuschend, schmerzhaft oder katastrophal sind) und damit zu einem Verlust des ursprünglichen Einheitsbewusstseins, zu einer „spezifischen Verblendung“, zu einer Täuschung über den zuinnerst guten Zustand des Seins, zu der trügerischen Ansicht, dass Liebe und Güte nur lokalisierte und sporadische Phänomene seien, und dass man getrennt von dieser liebevollen Gesamtwirklichkeit existiere.
Dieses Misstrauen aufgrund eines unzulänglichen Gehalten-seins und die verzerrte Sicht der Gesamtwirklichkeit führen zu dem Gefühl einer „spezifischen Schwierigkeit“
(Minderwertigkeitsgefühl; Scham über sich selbst; Gefühl, nicht liebenswert, falsch, gedemütigt, hilflos, verlassen, isoliert, unsicher, verloren oder schuldig zu sein)
und rufen eine „spezifische Reaktion“ hervor.
Die heiligen Ideen und das Urvertrauen
Das Enneagramm der heiligen Ideen (also nicht der Charakterfixierungen) und ihre Beziehung zum Urvertrauen.
Die Charakterfixierungen entstehen dadurch, dass eine Person versucht, den Mangel an Kontakt mit den essentiellen Qualitäten (= heiligen Ideen) auszugleichen. Dafür strengt sie sich an und will auf diese Weise wieder erlangen, was ihr verloren ging. Das Enneagramm der Charakterfixierungen beschreibt neun Versuche, diesen Mangel auszugleichen. Das Enneagramm kann auch unter dem Blickwinkel betrachtet werden, neun Möglichkeiten, das Urvertrauen wieder zu erlangen.
Almaas spricht von neun „heiligen Ideen“. Ideen sind begrifflich. Das Urvertrauen ist aber nicht begrifflich. Die heiligen Ideen differenzieren das Urvertrauen nur auf der sprachlichen Ebene. Anders ausgedrückt, die heiligen Ideen sind neun verschiedene Wahrnehmungen Gottes – oder nicht theistisch gesprochen: unserer wahren Natur.
Die heiligen Ideen sind unverhüllte, nicht von unseren Konditionierungen verzerrte Wahrnehmungen der Realität. Es geht um eine Perspektive, die frei von jeder festgelegten Position ist. Das meinen wir, wenn wir von Befreiung oder Erleuchtung sprechen. Erleuchtung ist also keine spezielle oder besondere Erfahrung. Im erleuchteten Geisteszustand betrachten wir die Dinge lediglich nicht mehr durch die gefärbte Brille unserer Fixierungen und Reaktionen. Wir sehen sie in ihrem So-Sein. Der erleuchtete Geisteszustand ist also vollkommen alltäglich, nur eben ohne unsere gewohnten Verzerrungen und Eingrenzungen.
Der erleuchtete Geisteszustand ist sein natürlicher Zustand, bevor das Ego unsere Wahrnehmungen verzerrt und vernebelt. Die heiligen Ideen sind demnach neun verschiedene Facetten der Realität, neun differenzierte Wahrnehmungen, die wir beschreiben können, wenn das Urvertrauen dominiert und wir im alltäglich erleuchteten Geisteszustand sind.
Die im Enneagramm der Persönlichkeit beschriebenen Fixierungen sind neun Facetten der verzerrten Sicht des Ego. Diese Verzerrungen der Wahrnehmung betreffen die ganze Person. Sie geben uns eine bestimmte Gefühlslage, eine Stimmung, einen Stil. Das färbt alle unsere Erfahrungen. Die verzerrte Sichtweise des Ego verdreht den Bewusstseinszustand und gibt ihm eine bestimmte Haltung, eine Einstellung, eine Färbung.
Indem wir nun die heiligen Ideen nach und nach mit ihrer zugehörigen Verdrehung untersuchen, legen wir offen, wie unsere Seele weiter vom Ego strukturiert wird, anstatt in ihrem natürlichen Zustand zu verweilen. Die Auswirkungen des Ego auf die Seele haben sie so weit von unserem natürlichen Zustand entfernt, dass sie eine gesamte Einstellung, ein Leben, ein Universum geschaffen hat, das illusorisch ist.
Die heiligen Ideen zu verstehen, bedeutet, die Wirklichkeit mit unverhüllten Augen zu betrachten und ohne Verzerrung der Wahrnehmung zu leben und zu handeln. Wir entdecken, was der natürliche Zustand unseres Menschseins in dieser Welt ist. Im natürlichen Zustand denken wir überhaupt nicht darüber nach, in welchem Zustand wir gerade sind, ob wir erleuchtet sind oder nicht. Im natürlichen Zustand sind wir mit dem So-Sein der Dinge im Einklang.
Übersicht über die neun Heiligen Ideen des Enneagramms
Punkt Acht, die heilige Wahrheit. Wenn Urvertrauen im Vordergrund steht, öffnet sich das Kopf- zentrum und wir erkennen die Tatsache der Wirklichkeit. Wir erkennen, dass das Universum existiert und diese Existenz die wahre Wirklichkeit ist. Alles, was existiert ist eine Manifestation Gottes. Die Heilige Wahrheit entspricht der Wahrnehmung, dass Gott als die Gesamtheit der Existenz existiert. Wenn das Urvertrauen fest verankert ist, sehen wir, dass alles von der lebendigen Präsenz oder dem Bewusstsein durchdrungen wird. Das Leben so wahrzunehmen entspricht der Heiligen Wahrheit. – Die entsprechende Charakterfixierung bei Punkt Acht hat den Kontakt zur heiligen Wahrheit verloren und muss den Verlust ersetzen, indem man die eigene Existenz sichert und durchsetzt.
Punkt neun, die Heilige Liebe. Diese heilige Idee entspricht der Wahrnehmung, dass die Realität Liebe ist. Nicht im Sinne der Emotion, die wir Liebe nennen, sondern als inhärente Wirklichkeit. Das Universum ist Liebe, es folgt wohlwollenden Gesetzen. Es hat Leben ermöglicht und entwickelt es weiter, darin besteht die Liebe des Universums. – Die entsprechende Charakterfixierung bei Punkt neun hat den Kontakt zur Heiligen Idee der Liebe verloren und versucht, den Verlust zu ersetzen, in dem man Konflikte vermeidet, die mit dem Verlust von Liebe gleichgesetzt werden.
Punkt eins, die Heilige Vollkommenheit. Ist das Universum Liebe, dann erkennt man auch, dass es vollkommen ist. Man erkennt, dass das Universum zutiefst richtig ist. Auch die Art, wie es funktioniert, ist richtig. Die Gegenwart des Urvertrauens ermöglicht nicht nur, zu akzeptieren, was ist, sondern auch die Vollkommenheit der Wirklichkeit zu erkennen. Die entsprechende Charakterfixierung bei Punkt eins hat den Kontakt zur Heiligen Idee der Vollkommenheit verloren und versucht, den Verlust zu ersetzen, in dem man in einer als unvollkommen betrachteten Welt Perfektion anstrebt.
Punkt zwei, der Heilige Wille. Diese Idee entspricht der Wahrnehmung, dass alles was geschieht, ein Ausdruck des liebevollen und vollkommenen Universums ist. Das führt dazu dass alles, was geschieht – der Wille des Universums – akzeptiert wird. Daraus entspringt die Idee der Heiligen Freiheit, die auch zu diesem Punkt gehört. Es macht Sinn, sich an das hinzugeben, was geschieht. Man weiß, dass alles, was geschieht, in Ordnung ist. Indem man den Widerstand dagegen aufgibt, verwirklicht man Freiheit und ist im Einklang. Die entsprechende Charakterfixierung bei Punkt zwei hat den Kontakt zur Heiligen Idee des Willens und der Freiheit verloren und ver- sucht, den Verlust zu ersetzen, in dem man die Wirklichkeit manipuliert. Sie soll so sein, wie man sie sich wünscht.
Punkt drei, die Heilige Hoffnung oder Gesetz oder Harmonie. Das ist die Wahrnehmung, dass alle Dinge sich ganz natürlich in die richtige Richtung bewegen. Denn alles entspringt einer wohlwollenden Wirklichkeit. Man vertraut auf die Entfaltung des Universums, die alles zum Besten führt. Man braucht die Dinge also nicht selbst in die Hand zu nehmen, damit sie geschehen. Anstatt der Hoffnung darauf, dass die richtigen Dinge geschehen werden, herrscht eine Hoffnung, die keine Bedingungen stellt. – Die entsprechende Charakterfixierung bei Punkt drei hat den Kontakt zur Heiligen Idee der Hoffnung verloren und versucht, den Verlust zu ersetzen, in dem man sich an den eigenen Vorstellungen von Erfolg orientiert.
Punkt vier, der Heilige Ursprung. Das entspricht der Wahrnehmung, dass wir selbst und alles, was existiert, aus der liebevollen Präsenz des Seins hervorgeht. Die „Quelle des Lebens“ (Psalm 36) ist unser Ursprung. Im Urvertrauen erkennen wir, dass wir mit dieser Quelle verbunden sind. – Die entsprechende Charakterfixierung bei Punkt vier hat den Kontakt zur Heiligen Idee des Ursprungs verloren und versucht, den Verlust zu ersetzen, in dem man ihn durch den Glauben an eine vom Ursprung getrennte Identität kompensiert.
Punkt fünf, das Heilige Allwissen. Das entspricht der Wahrnehmung der Einheit der Wirklichkeit, dass alles was existiert, miteinander verbunden ist und ein Ganzes bildet. Die vom Ego erfahrenen Grenzen sind nicht real, sondern Täuschungen. Allwissen ist die Art und Weise, wie Gott um die Dinge weiß – als Gesamtheit, als Eines ohne Trennungen – Die entsprechende Charakterfixierung bei Punkt fünf hat den Kontakt zur Heiligen Idee des Allwissens verloren und versucht, den Verlust zu ersetzen, in dem man durch gedanklichen Wissenserwerb den Verlust der Schau der Einheit kompensiert.
Punkt sechs, der Heilige Glaube oder die Kraft. Das ist die Wahrnehmung, dass die Wirklichkeit, das Universum oder Gott für uns da sein wird, uns unterstützen wird und uns zur Seite steht. Der Heilige Glaube ist dem Urvertrauen am nächsten, er ist eine differenziert Sicht des Urvertrauens. – Die entsprechende Charakterfixierung bei Punkt sechs hat den Kontakt zur Heiligen Idee des Glaubens oder der Kraft verloren und versucht, den Verlust zu ersetzen, in dem man es durch Unsicherheit und Misstrauen kompensiert.
Punkt sieben, die Heilige Weisheit oder Arbeit oder Plan. Das ist die Wahrnehmung, nicht nur, dass die Dinge in Ordnung sind, dass sie zum Besten geschehen – sondern wir bekommen auch ein Gefühl dafür, wie sich die Dinge entfalten. Wir bekommen Einsicht in die Entfaltung der Weisheit in der Entwicklung des Menschen und des Universums. Der heilige Plan ist die Wahrnehmung, in welche Richtung sich das Leben entfaltet, wenn es im Kontakt mit dem So-Sein ist. – Die entsprechende Charakterfixierung bei Punkt sieben hat den Kontakt zur Heiligen Idee der Weisheit oder der Arbeit oder des Plans verloren und versucht, den Verlust zu ersetzen, in dem man glaubt, man könne die eigene Entfaltung dirigieren.
Dagmar Winner, Unternehmensberaterin aus Berlin